Reiseboykott Tunesien: Abschied von einem Land

Reiseboykott Tunesien: Über viele Jahre hinweg war Tunesien mein Herzensort, an dem mich jedes Mal wenn ich dort war, ein besonderes Gefühl eingeholt hat. Zwischen 2017 und 2022 war ich 7 oder 8mal dort, meistens im Rahmen von Pressereisen, organisiert vom tunesischen Fremdenverkehrsamt.

Eigentlich wollte ich diesen Dezember wieder nach Tunesien fliegen, unter anderem dem deutschen Winter entfliehen, von dort aus arbeiten und mich mit einigen Bekannten treffen, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe, unter anderem für Fashion-Kooperationen und Fotoshoots. Doch es kam anders und die Umstände haben mich dazu gebracht, mich gegen diese Reise zu entscheiden und wahrscheinlich auch gegen Reisen nach Tunesien generell. Nachdem ich diesen Artikel veröffentlicht haben werde, zum Reiseboykott Tunesien, wird es zumindest mit Kooperationen mit dem Fremdenverkehrsamt wohl ohnehin vorbei sein. Kritische Artikel sind, verständlicherweise (und natürlich nicht nur in Tunesien) in der Tourismusbranche nicht gern gesehen.

Die schöne Medina von Tunis

Mein Tunesien Reiseboykott – wie es dazu kam

Was nun eigentlich passiert ist? Der Nahost-Krieg! Das hört sich im ersten Moment vielleicht nicht so an, als könne es ein Grund sein für einen Tunesien Reiseboykott, bekriegen sich doch schließlich Israel und Palästina, und Tunesien ist nicht involviert. Indirekt aber schon, doch dazu muss ich etwas weiter ausholen.

Als am 7. Oktober der Hamas-Anschlag auf Israel war, war ich schon auf Kreta, lag nachmittags in der Sonne am Pool und habe zunächst nicht viel davon mitbekommen. Doch als ich abends auf Instagram Stories ansah und/oder die Tagesschau-Seite las, erreichten mich schreckliche Bilder, von jungen Menschen, die auf einem Festival wegrennen, von vergewaltigten Mädchen, Leichen, Schüssen, der ganze grausame Wahnsinn. Was darauf folgend an diesem Abend und am nächsten Tag auf den Social-Media-Accounts eines großen Teils meiner tunesischen Bekannten (mehrere hundert) passiert ist, hat mich wahrlich schockiert. Wichtig ist an dieser Stelle noch einmal zu erwähnen, dass dies war, bevor Israel zurück geschlagen hat. Zu diesem Zeitpunkt war lediglich der Hamas-Anschlag passiert. Nun wurden plötzlich in den Instagram-Stories und -Feeds der Tunesier Palästina-Flaggen geteilt (zu diesem Zeitpunkt ja ein Statement FÜR den Anschlag), zum Teil aber auch Videos jubelnder und feiernder Massen (vergleichbar mit den Feiern und dem Süßigkeitenverteilen auf der Sonnenallee, nur noch viel größer), Grafiken und Videos, in denen die Hamas-Kämpfer als Befreiungskämpfer gezeigt wurden und immer wieder solche, in denen behauptet wurde, dass es bei dem Anschlag keine Vergewaltigungen oder Folter gegeben hätte und die Hamas umsichtig gewesen und Zivilisten verschont hätte.

In den folgenden Tagen habe ich versucht mit vielen von ihnen zu reden, aber es war erfolglos, denn ich bin zu niemandem durchgedrungen. Mir wurde sogar in einigen Nachrichten geantwortet, dass alle Israelis sterben sollten, dass kein Israeli ein Recht auf Leben hätte. Teilweise richteten sich die Nachrichten auch gegen den Westen als Ganzes, teilweise ebenfalls gegen Deutsche, mit der Begründung, dass wegen uns „die Juden überhaupt erst nach Israel gekommen wären“, und Bemerkungen wie, dass „man Deutschland doch dann am besten gleich mit bombardieren solle“. Leider habe ich es wirklich nicht geschafft, auch nur mit einer Person aus meinem tunesischen Bekanntenkreis ein annähernd zielführendes Gespräch zu führen.

tunesien reiseboykott
Nachricht eines tunesischen Models, das möchte, dass jeder Israeli in der Hölle brennt
Antisemitismus: das Land soll nur Muslimen gehören, laut eines Fotografen. So viel dazu, dass es nicht um Religionen ginge.
Und weiter bestreitet er die Taten der Hamas. Es wären nur Soldaten angegriffen worden, keine Frauen und Kinder.

Dabei geht es mir wahrlich nicht darum, mir anzumaßen, den Nahostkonflikt annähernd verstanden zu haben, auch wenn ich im letzten Monat wahrscheinlich insgesamt ungefähr hundert Stunden damit verbracht habe, darüber zu lesen und Dokumentationen zu schauen. Es geht mir dabei auch nicht darum, mich klar auf die Seite eines Landes zu stellen, erst Recht nicht auf die einer Regierung, ich wollte lediglich keinen Extremismus sowie die Anerkennung, dass die Taten der Hamas grausam waren, und die Geiselnahmen beendet werden müssen. Doch die habe ich von „meinen“ Tunesiern nicht bekommen. Viele Tage habe ich geflucht und geweint aus Verzweiflung, nächtelang kaum geschlafen und dann fast allen Tunesiern aus meinem Social Media Umfeld entfolgt, da ich diese extremistischen Posts nicht mehr sehen konnte, in denen die Hamas als Freiheitskämpfer gefeiert werden, ohne ernsthaft meine psychische Gesundheit zu gefährden. Zu diesem Zeitpunkt habe ich auch angefangen mir Gedanken darüber zu machen, ob ich meinen für Dezember gebuchten Tunesien-Flug wirklich antreten soll: der Beginn von meinem Tunesien Reiseboykott.

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Ein Kommentar einer Tunesierin in einer Facebook-Diskussion, an der ich teilgenommen habe. Auch sie möchte alle Israelis zerstört sehen, da sie weniger wert seien als Tiere.

Unabhängig von dem, was ich in meinem direkten Umfeld erlebt habe, haben mich zudem die weiteren Geschehnisse in Tunesien geschockt. So wurde als Folge die Synagoge El Hamma im Süden des Landes angezündet und demoliert (was in den tunesischen Medien verschwiegen wurde), die deutsche Botschaft wurde fast gestürmt, da der Botschafter bei einer Schuleröffnung etwas gesagt hatte, was aus tunesischer Sicht zu kritisch gegenüber Palästina war. Daraufhin gab es auf der Facebook-Seite der Botschaft hunderte von Kommentaren, in denen verlangt wurde, dass der Botschafter sofort das Land verlassen müsse sowie genereller Deutschenhass geäußert wurde. Und dann, als Tropfen auf dem heißen Stein, hat der Präsident des Landes, Kais Saied (der seit einigen Jahren an der Regierung ist und ohnehin schon als Hardliner gilt), angekündigt, ein neues Gesetz zu erlassen, laut dem jeglicher Kontakt zu Israelis als Hochverrat gelten soll. Dieser würde hohe Geld- oder lange Gefängnisstrafen zur Folge haben. Im taz-Artikel „Radikal gegen Israel“, vom 3. November 2023, ist es folgendermaßen beschrieben:

„Sollten also tunesische Geschäftsleute oder Di­plo­ma­t:in­nen selbst im Ausland zusammen mit Israelis an einer Konferenz oder Universitätsseminaren teilnehmen, drohen ihnen in der Heimat sechs bis zehn Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von bis zu 30.000 Euro. Die Wiederholung von Handlungen, die zur „Normalisierung der Beziehungen mit der zionistischen Entität“ dienten, würden mit lebenslanger Haft bestraft werden.

(Quelle: https://taz.de/Neuer-Gesetzesentwurf-in-Tunesien/!5970732/)

Normalerweise war ich nie eine Verfechterin von Reiseboykotten aus politischen Gründen (siehe auch dieser Blogartikel), da ich immer die Meinung vertreten habe, dass man die Bevölkerung nicht dafür verantwortlich machen kann, was die Regierung tut, und diese Meinung vertrete ich weitestgehend immer noch. Aber in diesem Fall habe ich erlebt, dass es scheinbar häufiger doch zusammenhängt, zumindest wenn bezüglich eines politischen Themas schon jahrzehntelang eine politische Richtung verfolgt wird. Denn was die Regierung will, dass wird in Schulen unterrichtet, das wird in den Medien verbreitet und somit auch im Bewusstsein der Bevölkerung festgesetzt, zumindest zu einem sehr großen Teil.

Und im Falle von Tunesien hat zu meinem starken Meinungsumschwung bezüglich des Landes geführt, dass ich eben die entsprechenden Verhaltensweisen und Äußerungen ganz direkt von der Bevölkerung, eben meinen tunesischen Bekannten, mitbekommen habe. Ich kann nicht mehr mit gutem Gefühl in ein Land reisen, in welchem mir ein Großteil der Bewohner sagt, dass die Hamas-Kämpfer quasi nette Jungs seien, und dass alle Israelis den Tot verdient haben, in dem also keinerlei Differenzierung stattfindet und das Individuum nicht als unabhängig von seiner aktuellen Regierung betrachtet wird. Denn, spinnen wir das Ganze doch mal weiter, wenn Deutschland weiterhin auf der Seite Israels steht, was in Tunesien als Verrat gilt, bin ich dann nicht auch automatisch „der Feind“ und habe kein Recht auf Leben mehr?

Tunesien Reiseboykott Kommentar
Einer der zahlreichen Kommentare unter einem Post der deutschen Botschaft in Tunesien, auf Facebook

Mir macht diese Radikalität, die ich zum ersten Mal so geballt mitbekommen habe, zu viel Angst, als dass ich sie einfach ignorieren könnte. Natürlich weiß ich auch, dass die Reaktionen in einigen anderen Ländern ähnlich radikal abgelaufen sein werden, doch hatte ich schlicht und ergreifend die meisten Berührungspunkte zu Tunesien und Tunesiern, weswegen sich der Artikel speziell diesem Land widmet.

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Bei einer meiner Tunesienreisen im Süden

Insofern heißt es Abschied nehmen, ein Abschied der mir wirklich schwer fällt. Ich werde die weiß-blauen Häuser von Sidi Bou Said vermissen, das Gewimmel der Gassen in der Medina von Tunis, den Duft nach Orangenblüten, das Rauschen des Meeres in Hammamet, den Sand der Sahara im Süden des Landes und so viel mehr. Und hoffe ansonsten darauf, dass sich die politische Situation vor Ort wieder mäßigt und ich irgendwann wieder in „mein“ Tunesien reisen kann.

Reiseboykotte – Podcast zum Thema

Übrigens habe ich seit kurzem auch einen eigenen Podcast, zusammen mit meiner Freundin Lynn. Unsere erste Folge handelt von Reiseboykotten und wir haben sie tatsächlich vor dem siebten Oktober aufgenommen, dann im nachhinein aber noch einen Disclaimer aufgenommen gehabt. Hört gerne mal rein, bei unserer ersten Folge von HERSpectives, wenn euch das Thema interessiert. Und folgt uns auch sehr gerne auf Instagram: HERSpectives .

HERSpectives: Reiseboykotte, zwischen Ethik und Fernweh

2 Kommentare

  1. tja, was soll ich sagen….es ist alles richtig gut beschrieben und ich finde mich in Ihrem Text erstaunlicherweise wieder. Nun, wir flogen das erste Mal im Jahre 2000 nach Tunesien und haben uns in das Land regelrecht verliebt. Viele Bekanntschaften und Freundschaften haben sich im Laufe der Jahre entwickelt. Mit Ausnahme der Corona – Jahre waren wir jedes Jahr mindestens einmal vor Ort. Immer das gleiche Hotel. Bei einem Besuch der Stadt Zarzis 2015 wurden meiner Frau und mir Steine hinterher geworfen. Wir haben uns nichts weiter dabei gedacht und hatten die Sache bereits vergessen. Nach dem Angriff auf Israel hat sich alles komplett verändert. Nichts ist mehr so, wie es scheinbar war. Den einhergehenden Antisemitismus verurteile Ich genau so, wie ich ihn verachte. Allerdings möchte ich mangels Hintergrundinformationen keine rechtliche Beurteilung abgeben. Es gibt auf beiden Seiten sehr viele Opfer und die kann man nicht in erste und zweite Klasse – Opfer einordnen…. diese Vorfälle trübten schon unsere Vorfreude auf den Urlaub im kommenden Jahr. Schöne drei Wochen Sommer, Sonne und Strand mit unseren, auch tunesischen Freunden sollten es werden…. es ist ja auch nicht so, dass wir mit leeren Händen dort Urlaub machten….Sehr lange haben meine Frau und ich überlegt, was nun zu machen sei. Dann kam der bekennende Tag des tunesischen Parlaments, in dem der Umgang mit Israel festgelegt und unter Strafe gestellt wurde. So, plötzlich fühlen wir uns als Staatsfeinde Tunesiens. Gefühlt kamen unsere erlebten Steinwürfe aus 2015 immer näher. Das war dann letztendlich der Grund, warum wir die gebuchte Reise aus Eigenschutz stornierten. Schade, Schade, Schade.

    • Hallo Olaf,
      danke für die ausführliche Antwort. Und interessant und auch gut zu wissen, dass ich nicht als einzige die Reise storniert habe. Auch ich bin definitiv keine Nahost-Expertin und maße mir nicht an zu beurteilen, welche Seite schlimmere Sachen macht. Aber von verschiedenen Bekannten aus Tunesien zu hören, dass jeder Israeli dieser Welt sterben sollte, das war einfach zu hart, menschenverachtend und einfach nicht mehr differenziert. Und solche Aussagen von gebildeten Leuten, bei denen man gedacht hätte, dass sie es besser hätten wissen sollen. Es ist wirklich schade um ein eigentlich so schönes Land. Aber manchmal muss man halt, schweren Herzens, Abschied nehmen.
      Herzliche Grüße
      Katharina

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